Slum Dogs (2012)

Vorlage: Nachtasyl von Maxim Gorki
Bearbeitung und Regie: Mathias Neuber

Slum Dogs ist ein Stück, das danach fragt, ob wir die Lüge brauchen, um mit den Verhältnissen, in denen wir leben, zurechtzukommen.
Die Arbeitslosenstatistik der Bundesrepublik ist auf dem besten Stand seit Jahren. Und in den Medien gibt es Berichte wie diesen: In einer Fußgängerzone im Rheinland sollen nicht mehr in den Arbeitsmarkt zu vermittelnde 40 bis 60jährige als Klein- unternehmer selbst gemalte Bilder an die Passanten bringen. Starten sie, die nie etwas mit Malerei zu tun hatten und nun die Arbeitslosenstatistik entlasten, in ein neues Leben?
Die Menschen in Slum Dogs haben auch etwas zu verkaufen – eine kriminelle Biografie. Dass sie das können, dafür sorgt Schimpfer, der Betreiber einer mickrigen Online-Show nach dem Muster von Big Brother. Die „Schauspieler ihrer selbst“ reiben sich an seiner Abgefeimtheit und Rücksichtslosigkeit. Und doch gibt Schimpfer ihnen Halt im Leben, mit der Show und dem neu engagierten „Lebens-Philosophen“ Luka. Als die „Schauspieler ihrer selbst“ anfangen Luka widerwillig Glauben zu schenken, verschwindet er. Und Schimpfer, in seine eigenen Winkelzüge verstrickt und gescheitert, zerstört seine Show.

 

Ensemble und Besetzung

– Vorlage: Nachtasyl von Maxim Gorki –
Bearbeitung/Regie: Mathias Neuber

Darsteller:
Schimpfer: Holger Püschel
Clarissa: Ypsi Ciupack
Natascha: Karoline Leder
Jakob: Michael Herter
Pepe: Christoph Morling
Milbe: Patrick Niegsch
Anna: Sophie Höfig
Nastja: Ingrid Ruschke
Backtrog: Elisa Marquardt
Klappstuhl: Christoph Jahn
Doktor: David Cueppers
Satan: Torsten Dubrow
Schauspieler: Philipp Hoffmeister
Luka: Mathias Neuber
Suleika: Elke Noack

Technik: Sven Köppe / Daniel Göring
Souffleur: Karsten Pätz
Fotos: Johannes Zantow
Plakatentwurf: Patrick Niegsch

Premiere war am 15. Januar 2012

 

Kritik in der Lausitzer Rundschau vom 17. Januar 2012

Fade bis fadenscheinig

Ein gutes halbes Jahr und 30 Plusgrade ist es her, dass das Stück nach Gorkis „Nachtasyl“ im Souterrain der Studentenbühne schon einmal aufgeführt wurde. Das futuristisch aufgeblasene Endzeitdrama, dem die Zuschauer mit Sonnenbrillen folgen mussten, wird damals nicht nur die Rundschau-Kritikerin unfroh gestimmt haben: Jedenfalls machte sich die Studentenbühne gleich nach der Premiere daran, es noch mal von vorn zu versuchen. Die gute Nachricht: Die Sonnenbrillen sind jetzt weg.

Sie saufen einsam und alleine sterben sie auch. Wer hier unten angekommen ist, dem fehlt wirklich jede Alternative: Menschen, für die das soziale Netz wohl zu grobmaschig war, prekäre, kriminelle, arbeitslose, gedemütigte Existenzen, solche, an denen jedwede Jungdynamik genauso abgeblättert ist wie der Glaube an so was Verrücktes wie die eigene Würde. Im Nachtasyl treffen sie aufeinander und da wird alles noch schlimmer: Hier unten wird geprügelt, gepöbelt, gemobbt. Gemordet wird auch, aber das ist fast schon wie eine Erlösung. Das „Nachtasyl“ ist ein kluges, tot-trauriges, großartiges Stück, so gut, dass es seit mittlerweile 110 Jahren immer wieder von Regiegrößen ins Hier und Heute geholt wird. Bühne 8-Chef Mathias Neuber lässt das Stück auch diesmal in gleißendem Weiß spielen, während die Außenwelt per Flachbildschirm in den Raum dringt. Wirklich die Außenwelt? Herbergsvater Kostiljew ist es, den wir beim Beobachten beobachten. Der Asylchef, der aus unerfindlichen Gründen hier den Namen Schimpfer bekam und in Big Brother-Manier das traurige Treiben steuert. Wobei Big Brother den assoziationswilligen Zuschauer schon mal in die richtige Richtung lenkt. Denn wo sonst könnte man verrottete Sitten und Menschenverachtung ansiedeln, wenn nicht… in einem Fernsehstudio! Wir sind online, wird uns erklärt. Gott sei Dank taucht bald der Streetworker Luka auf, in breitem Sächsisch Elvis‘ „In the Ghetto“ intonierend. Den Luka spielt Regisseur Neuber selbst und seine Attitüde lässt immerhin ahnen, warum er derart hartnäckig an dem Stoff festhält. Luka bringt mit faustdicken Lügen Hoffnung ins Asyl. Im Text jedenfalls. Aus dem Publikum ist ein erstes Schnarchgeräusch zu vernehmen.
Die falsche Bühne, das falsche Stück. Den jungen Leuten ist das nicht vorzuwerfen, Neuber schon. Zumal ein Stoff, zu dem das Ensemble (allesamt Laien!) keinen echten Zugang hat, auch darstellerische Defizite mitleidlos enttarnt. Auszunehmen: Karoline Leder. Der Souffleur ist auch gut. Ansonsten wird getönt, gepost und aufgesagt, manches gerät unfreiwillig zur Karikatur. Nie starb jemand auf einer Bühne geräuschvoller als die ächzende Anna. Ein buntes Allerlei an Regiezitaten, nicht alle logisch, der Gipfel: die Carmina Burana zu Pepes zornig-verzweifeltem Zusammenbruch. Wenigstens Anna muss es nicht mehr mit ansehen. Gut gemeint ist noch nicht gut gemacht, auf der Bühne schon gar nicht. Die Auseinandersetzung mit Würde und Wahrheit muss sein, sonst bleibt für später nur das politische Hochamt. Und jetzt, bitte, keinen dritten Aufguss davon, sondern bitte bald wieder etwas wirklich Eigenes. Es darf sehr gern eine Nummer kleiner sein. Von Sylvia Belka-Lorenz
Lausitzer Rundschau

Kritik im Blicklicht Februar 2012

Gesehen: Slum Dogs

Sehr viel Lobendes habe ich an dieser Stelle schon geschrieben über die BÜHNEacht. Doch jeder Faden reißt einmal oder reibt sich zumindest stark auf. Slum Dogs. Slumdog Millionaire? – Ach nein, nicht Indien, da steht Gorki auf dem Plakat: „Nachtasyl“. Der lebte zur vorletzten Jahrhundertwende in Russland. Eine Nacht mit den Obdachlosen dieser Zeit stellt man sich besser nicht vor. Offenbar wollte das auch Mathias Neuber nicht (Bearbeitung und Regie) und verlegte das Stück nicht nur ins Heute, sondern dabei in eine Big-Brother-TV-Situation.

Gescheiterte Gestalten aller Art lungern, von Kameras beobachtet, in einem Keller. Der Zuschauer sieht nicht nur das, sondern auch den Produzenten des Ganzen via Mo- nitor. Ganze 15 Mitwirkende lässt Mathias Neuber auf seiner Bühne agieren, das sind nur zwei weniger, als bei Gorki, für die vielleicht sinnvolle Verdichtung des Ganzen, auf die Möglichkeiten des kleinen Theaters und der Darsteller, jedoch zu viele. Sowohl das Original (immerhin Gorkis erfolgreichstes Schauspiel), als auch die neuen Ideen bieten eine Menge Reibungsfläche für gutes Theater. Als zu Beginn die acht wirren Figuren auf der Bühne stehen verwischen Irrenhaus und Big-Brother sehenswert. Auch fällt sehr positiv auf, dass es hier (für Laientheater eher selten) wirklich gute, männliche Schauspieler gibt. Und für ein Studententheater ist das breite Altersspektrum der Akteure erstaunlich und eine Bereicherung (5 Mitfünfziger, sonst um die Zwanzig). Zu schnell aber verliert sich alles in Einzelleistungen, gelegentlich auch in gute Szenen, wird jedoch nie zum Stück. Ja – es wird noch ersichtlich, worum es geht. Braucht der (schwache) Mensch die Lüge (um sich und der Welt etwas vorzumachen)? Sein, was man ist oder sein möchte? Was ist man überhaupt? Wie wird man, was man gern wäre – und, woher weiß man, was man sein könnte? Was macht Gewinner aus? Und sind das denn Gewinner? Was ist Inszenierung am eigenen Schein? Wo sind Lüge und Wahrheit, wo ist Show und wo Realität? Die weiße Bühne rief geradezu danach, dies nicht nur in den leeren Raum zu werfen, sondern die Zweifel auszudrücken, vielleicht sogar Antworten zu erspie- len. Doch die Fähigkeiten des gesamten Ensembles erreichen genau an dieser Stelle ihre (bisherigen!) Grenzen.
Jens Pittasch

Anmerkung: Wir nehmen als BÜHNE acht diese Kritiken zur Kenntnis und würden uns aber freuen wenn jeder Theaterinteressierte sich sein eigenes Bild macht.